Chrissi W: Die Ansprache der Kanzlerin

„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger. Das Coronavirus verändert das Leben in unserem Land dramatisch.“

 

Aber ja doch, ich weiß schon. Soeben geht die Welt unter. Ich sitze mit meinen Kindern beim Frühstück. Mein Sohn starrt ins Mobiltelefon und kaut nebenbei auf einer getoasteten Waffel. Ohne aufzuschauen, hebt er langsam die Tasse mit dem Kakao an den Mund. Kurz darauf sieht er mich an: „Mama, ist das schlimm, wenn man Corona hat?“ Meine Tochter hat soeben begonnen, mit ihren kleinen Kinderhänden unser größtes Küchenmesser zu fassen und Bananen in ihr Müsli zu hacken. Ich sehe ihr gedankenverloren dabei zu und bringe ein gedehntes „Weiß nicht…“ heraus. Ich denke an mein Vorhaben. Am Wochenende will ich aufbrechen und die fünfhundert Kilometer zu ihm fahren. Ich kann mich seit Tagen auf nichts konzentrieren. Ich male mir aus, was ich anziehe, was ich sagen werde, bevor wir uns umarmen. Ich höre seine tiefe Stimme. Ich sehe seine blauen Augen vor mir: Ein paar Fältchen umrahmen diese Augen, sonst ist alles noch wie früher. Und jetzt soll dieses …wie? COVID 19 die Welt und mich in einen lock down befördern. Zuhause bleiben. Nullkontakte. Ist das nicht ziemlich übertrieben?

„Es geht darum, das Virus auf seinem Weg durch Deutschland zu verlangsamen. Dabei müssen wir – und das ist existenziell – auf Eines setzen: Das öffentliche Leben, soweit es geht, herunterzufahren.“

Herunterfahren. Das meint sie doch nicht so, oder? Kann es sein, dass sie das Reisen verbieten wird? Da mache ich nicht mit! Ich werde zu ihm h e r u n t e r fahren. Zwanzig Jahre habe ich verpasst! Ich war immer froh, dass wenigstens er glücklich war und habe mir eingeredet, dass man alte Liebe nicht mehr aufwärmen kann. Alles war gut, so wie es war. Jeder hält es schließlich für absurd, seine Jugendliebe noch einmal zu lieben, das ist so aufgewärmt, so lau. Und es geht selten gut aus. Doch ein warmes Gefühl keimt in mir, es wächst und breitet sich aus, lässt mich wach liegen und hoffen. Am Tag und in der Nacht zieht es all meine Gedanken an sich wie ein Magnet. Ich fühle mich wie das junge Mädchen von damals, bereit zum Aufbruch.

„Es sind Einschränkungen, wie es sie in der Bundesrepublik noch nie gab.“

Wenn man die Reisebeschränkungen betrachtet, die sie jetzt durchsetzen, die gab es schon mal. Ich bin an der Grenze groß geworden. Genau am Rande meines Heimatortes war die Welt zu Ende. Es gab ein Wärterhäuschen, in dem immer ein paar Beamte misstrauisch die Gewehre umklammerten. Es sei denn, man besaß einen Passierschein für die Zwanzig-Kilometer-Zone. Den hatte man, wenn irgendein Verwandter dort in seinem selbst gebauten Haus hockte, von dem schon der Putz fiel. Wir nannten es das Unterland. Ein bisschen Grusel lag in diesem Wort. Als Kind war es ein komisches Gefühl, nicht ganz zu wissen, was es mit diesem Gebiet jenseits der Stadtgrenze auf sich hatte. Am Beginn der Zwanzig-Kilometer-Zone war noch kein Zaun zu sehen. Aber nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, auch nur einen Fuß über diese unsichtbare Linie zu setzen. Es war tief in mir verankert – Verbote sind einzuhalten. Ich weiß auch heute, was Beschränkungen sind. Aber ich habe gelernt, sie zu hinterfragen. Also lasst mich selbst entscheiden! Wenn ich zu ihm fahre, kann ich doch niemanden gefährden? Ich fahre einfach durch, ohne Pause! Ich muss nur fünfhundert Kilometer die A3 hinunter.

„So unterschiedslos jeder und jede von dem Virus betroffen sein kann, so muss auch jetzt jede und jeder helfen. Wir müssen aus Rücksicht voneinander Abstand halten.“

Ach, komm schon, Angie! Es wird schon nicht so schlimm sein. Oder doch? Leute, die in Bergamo umfallen und nach drei Wochen Koma in Düsseldorf aufwachen. Das sind doch Einzelfälle, oder? Doch etwas hängt in der Luft. Die Medien haben seit Wochen kein anderes Thema mehr. Es muss also schon etwas dran sein an dieser mysteriösen Krankheit. Was, wenn ich mich dort infiziere? Oder was, wenn mich jemand auf dem Weg erwischt? Was passiert dann mit mir? Meine Gedanken galoppieren. Ich düse durch die Landschaft, ein Trupp Polizeiautos verfolgt mich, wir ziehen eine enorme Staubwolke hinter uns durch die Luft.

„Der gutgemeinte Besuch, die Reise, die nicht hätte sein müssen, das alles kann Ansteckung bedeuten und sollte jetzt wirklich nicht mehr stattfinden.“

Sie hat sollte gesagt. Das klingt, als sei es nur ein Vorschlag. Sicher ist ein Vorschlag noch keine Regel. Wo kann ich das nachlesen? Bis zur Umsetzung einer neuen Regelung dauert es doch sicher ewig. So habe ich bis zum Wochenende Luft. Ihr Vorschlag lässt sich bestimmt auch auslegen und auf meine Situation herunterbrechen. Andererseits kann ich doch nicht als Einzige eine Reise antreten, während 80 Millionen Bundesbürger brav zuhause bleiben?

„Ich appelliere an Sie: Halten Sie sich an die Regeln, die nun für die nächste Zeit gelten.“

Sie appelliert. Sie ermahnt. Und sie hat ‚Regeln‘ gesagt. Damit bin ich raus und muss hierbleiben. Ich kann nicht glauben, dass ich eine Ewigkeit auf diese zweite Liebe warte und dann sowas! Es ist wie damals. Ich lerne diesen großartigen Jungen kennen und er muss einen Monat später den Wehrdienst antreten, obwohl er den Antrag auf Wehrersatzdienst schon gestellt hatte. Vom ersten Kuss, bis zum Anruf des Kreiswehrersatzamtes und zu meinem Geheule am Bahnhof waren es nur ein paar Tage. Und für ein langes Jahr, über den schönsten Sommer 1994 hinweg, trennten uns fünfhundert Kilometer. Ich will das nicht glauben! Schon wieder sind wir fünfhundert Kilometer voneinander getrennt. Ich konnte früher nicht zu ihm fahren. Und heute könnte ich, aber darf nicht? Wer hat dieses komische Drehbuch geschrieben?

„Wir sind eine Demokratie. Wir leben nicht von Zwang, sondern von geteiltem Wissen und Mitwirkung.“

Okay. Ich verstehe gar nichts mehr. Es gibt Regeln, aber niemand kann mich zwingen. Werden sie die A3 kontrollieren? Und wenn es Regeln gibt – wie wollen sie ihre Einhaltung kontrollieren? Beamte im Wärterhäuschen? Kann man wirklich verlangen, dass sich Lebenspartner nicht treffen? Und wir sind so etwas wie der leise Beginn einer neuen Lebenspartnerschaft. Ja! Ein Neubeginn, eine historische Wiedervereinigung! Wir sind das Volk! Ich bin… ein Völkchen!

„Es wird nicht nur, aber auch davon abhängen, wie diszipliniert jeder und jede die Regeln befolgt und umsetzt. Es kommt ohne Ausnahme auf jeden Einzelnen und damit auf uns alle an.“

Ich könnte heulen! Ich will nicht gegen Regeln verstoßen, keine Grenzen überschreiten! Ich will lieben! Was soll ich tun?

„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger. Dies ist eine historische Aufgabe und sie ist nur gemeinsam zu bewältigen.“

Gemeinsam. Mit Abstand? Verdammt.

© by C.W.

2 Kommentare zu „Chrissi W: Die Ansprache der Kanzlerin

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  1. Diese Geschichte scheint fast unglaubwürdig, doch liest es sich sehr vertraut. Mich würde interessieren wie es weiterging: Bist Du gefahren? Hat es sich gelohnt? Wie geht die Geschichte der wiederentdeckten Liebe weiter? Fragen über Fragen…

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    1. Ich kann nur sagen, dass es für Viele eine verrückte Zeit war – und auch für Liebende eine Herausforderung. Aber Andere hat es viel schlimmer getroffen, das darf man nicht vergessen.

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