James Hynes: Ich, Sperling

Zehn Tage las und befand ich mich im römischen Reich, weit entfernt von Rom, in der kleinen Hafenstadt Carthago Nova, an der spanischen Küste. Ein alternder Staat, am Ende des vierten Jahrhunderts nach Christus – es sind keine glanzvollen Zeiten. Die Christen sind ideologisch auf dem Vormarsch, die Mosaike haben große Risse und in den Thermen fällt der Putz von den Decken. Die Geschichte von „Ich, Sperling“ hat auch nicht die kämpferischen Helden im Visier, sondern begibt sich auf die unterste gesellschaftliche Ebene zwischen Seemännern, Sklaven, Huren und skrupellosen Herren. Sperling ist ein kleiner Sklavenjunge, der seine Geschichte als alter Mann im Rückblick erzählt:

„Ich, Jakob, Sohn von niemandem, Vater von niemandem, geliebt von niemandem, Sklave, Hure Cinaedus, Eunuch, Mörder, Zuhälter, vielleicht Jude, vielleicht Syrer, vielleicht Nilschlamm, Arbeiter, Aufseher, Krüppel, Schwindsüchtiger, herrenloses Gut, verwittertes, von der Flut angespülte Treibholz, letzter Bewohner einer menschenleeren Stadt in einer aufgegebenen Provinz am äußersten Rande eines sterbenden Imperiums, schreibe diese Geschichte meines Lebens nieder.“

Als Kind ohne Eltern kommt Sperling in das letzte vom Bischof geduldetete Bordell Carthago Novas. Der Grund ist eine Verwechslung – auf dem Sklavenmarkt ist er für ein Mädchen gehalten worden. Euterpe, eine der im Bordell arbeitenden „Wölfinnen“, wird zu seiner Ziehmutter. Sie erklärt ihm liebevoll die Welt und versucht, ihn zu beschützen. Doch je älter Pusus (Junge) wird, umso mehr gerät er in den Zwang, erst in der Küche und später in der Taverne mitzuarbeiten, bis eines Tages sein Schicksal unausweichlich wird. Zu wissen, dass Antinoos (so heißt er dann) überlebt und seine Kindheit als gealterter Greis schildert, hat mich beim Lesen aufgefangen. Denn was dieser Junge im Bordell erleben muss, wo Gewalt, Angst und Totschlag die Gemüter in Schach halten, hat mich ein paar Mal an meine Grenzen gebracht.

Natürlich ist das Eintauchen in andere Welten ein Abenteuer, nach dem man als Leserin oder Leser immer auf der Suche ist, wohlwissend, dass hier Fiktion die Seiten beherrscht. Doch so berührend und überwältigend erzählt, hat mich die Geschichte von Sperling – dem Vogel, der fliegen und laufen kann, trotzdem jeden Tag beschäftigt, auch wenn ich gerade nicht gelesen habe.

Das Gute: Zwischen all dem Leid und Unglück lassen sich Liebe und Freiheit, das Leben und das Atmen, Mut und auch Glück gänzlich anders bewerten. Und so reichhaltig geschildert, so vielseitig und gut recherchiert, konnte auch ein fallendes Imperium vor meinen Augen auferstehen.

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