Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende

Noch schwerer als sein Heimatland zu verlassen ist, den Entschluss darüber zu fassen, es zu verlassen. Wie weit kann man politische Entwicklungen, Chaos und Irrlichter im eigenen Land ertragen, bevor man mit allem bricht und bereit ist auszuwandern? Wann gelangt man an den Punkt, dass man die Gefahr für die eigene Existenz erkennt? Und ist es dann eventuell zu spät?

Was am 9. November 1938, der Pogromnacht in Deutschland, passierte, kann man überall nachlesen. Doch spüren kann man es nicht. Jeder Text, der nach dieser Zeit verfasst wurde, kann die Atmosphäre nicht mehr atmen, zu viel Zeit liegt zwischen heute und damals. Gerade deshalb ist dieses Buch etwas ganz Besonderes.  

Ulrich Alexander Boschwitz war gerade 23 Jahre alt, als er seinen Roman „Der Reisende“ schrieb. Zu dem Zeitpunkt war er bereits selbst geflüchtet. Innerhalb weniger Wochen verfasste er das Originaltyposkript auf Deutsch. Er schrieb unmittelbar nach den Geschehnissen um die Pogromnacht 1938, als Betrachter, als Betroffener, Ohnmächtiger und vielleicht in sich Zerrissener.

Seine Hauptfigur, der Berliner und Jude Otto Silbermann, wird am 9. November 1938 Opfer einer polizeilichen Hetzjagd kann erst im letzten Moment fliehen. Als reicher und bisher angesehener Kaufmann, begreift sich Silbermann als Deutscher, der im ersten Weltkrieg für sein Land gekämpft hat. Wie groß die Gefahr plötzlich für ihn geworden ist, scheint er noch nicht zu erfassen. Nach seiner Flucht begibt er sich zum Bahnhof, um seinem Geschäftspartner nachzureisen. Von da an ergibt sich ein Strudel an nachfolgenden Fahrten und ein Abwärtsgleiten der Romanfigur in die Wirren aus Flucht, Ausweglosigkeit und Trotz.

Während Silbermann im Zug sitzt, begegnet er Reisenden unterschiedlichster Art: Denunzianten, Teilnahmslosen, Betroffenen, die alle ein buntes Mosaik der deutschen Kultur in dieser Zeit formen. Und wir erleben die zunehmend ausweglose Flucht Silbermanns. Das Besondere – vom allerersten Moment an – ist die zeitgenössische Sprache des Romans. Man liest Wörter, die heute nicht mehr so verwendet werden, man folgt Dialogen, die einen alten Ton erkennen lassen. Und es sind die fein beobachteten Gedankengänge, die mich mitgerissen, ja in den Bann gezogen haben.

„[…] ‹‹Und dann wären wir fertig miteinander.›› Er sagte das so barsch er konnte, aber seine Stimme zitterte dabei, und Silbermann, dem der kühne Vorschlag zunächst die Worte nahm, war es, als zwänge sich der andere fast verzweifelt zu jeder seiner Gemeinheiten. Es schien ihm, als gehorche Becker mehr dem Pflichtgefühl, sich dieser Zeit gewachsen zu zeigen, als eigenem Wollen, eigener Überzeugung.“

 

Die Pogrome waren nicht das Ergebnis eines allgemeingültigen Volkshasses auf die Juden. Vielen Romanfiguren ist bewusst, dass die Entrechtung und Verfolgung von Juden und Minderheiten systematisch durch den Staat angelegt worden ist. Einige sind dadurch mehr von Angst erfüllt, als selbst überzeugte Judenhasser. Nur wenige Zeitgenossen Silbermanns sind 1938 Antisemiten. Manche Mitreisende sind einfach gleichgültig, weil sie nicht persönlich betroffen sind. Manch einer ist naiv, weil er weder die verzweifelte Lage des Romanhelden noch die politische Gefahr erkennt. Und genau dieser ist weder durchweg heroisch noch empathisch.

Der Abwärtsspirale des Otto Silbermann zu folgen, hat mich sehr bewegt. Mir wurde einmal mehr bewusst, was es damals bedeutete, Jude, auf der Flucht und gleichzeitig Gefangener im eigenen Land zu sein. Wer auch die Geschichte von Ulrich Alexander Boschwitz recherchiert, wird erkennen, welchen Schatz man mit diesem Buch in den Händen hält. Vielen Dank an Peter Graf, Geschäftsführer des Verlags „Das Kulturelle Gedächtnis“, der sich auf die Suche nach dieser Geschichte gemacht und dafür gesorgt hat, dass sie, sorgsam lektoriert, nun endlich auch auf Deutsch erschienen ist.

 

Dieses Buch sollte in den Kanon der wichtigen Schulbücher aufgenommen werden.

2 Kommentare zu „Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende

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  1. Menschen, die uns persönlich und authentisch aus jener Zeit berichten können, werden immer weniger, bald werden sie völlig fehlen und vmtl. auch durch sog. „Virtual Reality Hologramme“ im Klassenzimmer nicht ersetzbar sein.
    So wäre genau „Der Reisende“ ideal – speziell für die Bildungsarbeit in Schulen, da er aus dieser Zeit stammt und jungen Leuten ein zeitgeistliches Bild und Verständnis vermittelt.

    Chrissi liest – vielen Dank für diese tolle und anregende Leseempfehlung!

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