Das Leben auf dem Land ist schon verrückt zuweilen. Man sieht immer die gleichen Leute, lebt ein ganzes Leben mit deren Schrulligkeiten. Meistens ändert sich nicht viel. Wenn aber ein Okapi auftaucht, kann so eine Dorfgemeinschaft völlig aus dem Häuschen geraten. Nicht alle Bewohner des kleinen Ortes im Westerwald wissen vielleicht, wie ein solches Tier aussieht, zumal es ja erst sehr spät entdeckt wurde. Aber sie wissen wohl, was es bedeutet, wenn Selma in ihrem Traum diesem fabelgleichen Wesen begegnet und wenn es sie mit seinen großen dunklen Augen anschaut. Es ist eine Todesbotschaft, jemand wird sterben.
Doch wer soll es dieses Mal sein? Wen wird es treffen? Plötzlich sind alle auf der Hut, bewegen sich, als hätte es Blitzeis gegeben. Lang verschwiegene Wahrheiten wollen ans Licht oder zu Papier gebracht werden, damit man sie nicht mit ins womögliche Grab nehmen muss. Alle bereiten sich darauf vor, dem Tod zu begegnen. Mancher Tattergreis ist voller Vorfreude, legt sich hoffnungsvoll ins Bett und wartet. In diesem Ort ist alles möglich. Hier hat jeder so seinen Stil.
Leky schildert auf liebevolle Weise, wie Luise zwischen all den eigenartigen Mitmenschen aufwächst. Da sind ihre Großmutter Selma und der Optiker, der Selma schon sehr lang liebt, dessen Stimmen im Ohr ihm aber verbieten, es ihr zu sagen. Im Dorf leben auch
Elsbeth, die Abergläubische, die immer griesgrämige Marlies und Friedhelm, der Bruder des Einzelhändlers, der – fast wie seinerzeit Obelix – eine Beruhigungsspritze bekam, die ihn bis heute dazu bringt, fröhlich durch den kleinen Ort zu tanzen und „Oh du schöner Westerwald“ zu singen. Mit einer Hand voll Details charakterisiert Leky die Bewohner dieses Ortes und kommt dann immer wieder darauf zurück. Da fühlt man sich schnell heimisch.
Dass der Tod tatsächlich eintreten wird, daran lässt Leky schon im ersten Satz keinen Zweifel aufkommen:
„Als Selma sagte, sie habe in der Nacht von einem Okapi geträumt, waren wir sicher, dass einer von uns sterben musste, und zwar innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden. Das stimmte beinahe. Es waren neunundzwanzig Stunden. Der Tod trat etwas verspätet ein, und das buchstäblich: Er kam durch die Tür.“
Als es dann soweit ist, verfliegt alles Komische, die schreckliche Wahrheit versetzt alle in einen Dämmerzustand. Im Laufe der Geschichte wird Leky wiederholt mit Sätzen wie diesem vorgreifen, neue Tatsachen ins Spiel bringen, auf die sie erst später wieder zurück kommen wird. Dann jedoch schließt sich der Kreis und alles fügt sich zu einem kleinen, überschaubaren Universum zusammen. Die Autorin wechselt von der ich-Perspektive zur allwissenden Erzählweise, stellt die gut gehütete Wahrheit figürlich hin, gibt den Stimmen des Optikers einen widerspenstigen Charakter, wenn sie ihn vollständig zuquasseln, und sie lässt immer dann etwas in Luises Nähe herunter krachen, wenn diese nicht die Wahrheit sagt.
Ja, es sind das Augenzwinkern und die skurrilen Details, die dieses Buch so wundervoll machen. Es zeigt, was wir in unserer Angepasstheit zu verlieren haben: Unsere Akzeptanz für komische Eigenheiten, unser Mitgefühl und Verständnis für andere, den Zusammenhalt kleiner Gemeinschaften und einen langen Atem, nicht zuletzt für die Liebe. Diejenigen, die in diesem Buch verreisen und in die Ferne ziehen, verpassen das wirklich Wichtige im Leben. Denn Was man von hier aus sehen kann, das reicht eigentlich für ein „ganzes großflächiges Leben“, wenn ihr genau hin-lest.
ISBN: 978-3832198398
[Werbung] Was man von hier aus sehen kann: Roman
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