Julia Franck: Die Mittagsfrau

Was bringt Alice Sehmisch dazu, am Ende des 2. Weltkrieges, auf der Flucht nach Pommern, ihren 7 Jahre alten Sohn Peter einfach auf einem Bahnhof auszusetzen und für immer zu verschwinden? Wie kann sie diese engste menschliche Bindung zwischen Mutter und Kind einfach aufgeben? Etwas muss ihre grausame Tat rechtfertigen.

In einem Interview beschreibt Julia Franck, wie sie zu ihren Geschichten kommt: Die Suche nach Stoffen, sagt sie, beginne nicht von außen. Es seien Themen, die sie in Gedanken verfolgen und von denen sie manchmal über Jahrzehnte nicht lassen könne. Mit Die Mittagsfrau gibt sie dem Umstand, dass ihr Vater als Kind von seiner Mutter auf einem Bahnsteig verlassen wurde, eine Geschichte. Und nun, da ich das Buch beendet habe, lässt es auch mich nicht mehr los.

Nach dem schockierenden Prolog, an dessen Ende Peter allein zurück bleibt, hatte ich etwas Mühe, in die Geschichte zu finden. Ein Zeitsprung und Sichtwechsel führt vom Sohn zur Mutter. Zunächst war mir nicht klar, dass von ein- und derselben Figur erzählt wird. Helene, so heißt sie als Kind, wächst mit ihrer Schwester Martha in Bautzen auf. Ihre Eltern führen eine Druckerei. Helene ist intelligent und hegt im Stillen den Traum, einmal studieren zu dürfen. Sie führt bereits als Schulmädchen den elterlichen Betrieb fast allein.

Warum hier manche Rezension von einer idyllischen Kindheit spricht, kann ich nicht nachvollziehen. Die Mutter ist affektiert und selbstbezogen, lässt ihre Töchter täglich spüren, dass sie nichts für sie übrig hat, nachdem vier Söhne gestorben sind. Der Vater zieht bald in den Krieg und als er heim kehrt, ist er todkrank. Die Mutter, die ihm sein Fortgehen nie verzeiht, wird zunehmend verwirrt, überlässt den Töchtern Helene und Martha die Pflege des Vaters.

Nach dessen Tod folgen die Mädchen der Einladung einer jüdischen Tante nach Berlin. Hoffnung keimt auf. Sie sind jung und das Leben im Berlin der 20er Jahre pulsiert. Helene verliebt sich in Carl Wertheimer, einen Philosophiestudenten aus gutem Hause und das Leben scheint ihr alle Türen zu öffnen. Doch dann entsteht eine Spirale, die sich unabwendbar abwärts dreht. Gerade weil jede Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang nur schimmert, um dann wieder zu erlöschen, und weil jeder weiß, wie die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ihre Geschehnisse vorantreibt, in deren Strudel auch Helene und ihr späterer Sohn davon gerissen werden, übt dieses Buch einen gewaltigen Sog auf mich aus.

Die Erzählweise von Julia Franck ist distanziert und doch einfühlsam. Die Autorin hält ihren Stil frei von Erklärungen für das Verhalten der Figuren, bleibt sachlich und dennoch nah dran. Damit lässt sie mich Dinge mit meinem inneren Auge sehen, mich meine eigene Sentimentalität entwickeln.

Vor allem Helenes Ehe mit dem grobschlächtigen Wilhelm ist überaus intensiv und berührend. Helene, die jetzt zu Alice Sehmisch wird, verebbt im ehelichen Alltag. Sie wird vom Sexobjekt zur Putzfrau und Köchin, schließlich zur Betrogenen und Alleinerziehenden. Ihr Herz erlischt, alles erträgt sie stumm. Und so hat sie auch ihrem Sohn, der sie abgöttisch liebt, bald nichts mehr zu geben. Auf einem Ausflug in den Wald erliegt sie kurz dem Impuls, sich vor der Welt und Peter zu verstecken:

„Der Junge setzte sich auf den Hosenboden und weinte. Es war kein Spaß. Wenn sie jetzt wenige Meter neben ihm aus dem Gebüsch käme, würde er wissen , dass sie ihn beobachtet und sich absichtsvoll versteckt hatte. Mit welcher Absicht, warum? Helene schämte sich und hielt still, und der Junge weinte. Sie atmete flach, nichts einfacher als das. Kein Niesen, kein Verrat.“

Hier wird bereits deutlich, dass sie sich abwendet, sich in ihrer neuen Identität als Alice Sehmisch von sich selbst und ihrem Sohn entfremdet hat.

Insgesamt liefert Julia Franck alle Zutaten, die uns verstehen lassen sollen, warum Alice diese ungeheuerliche Entscheidung trifft. Ihre eigene lieblose Mutter, die Brutalität, das viele Leid in ihrem Beruf als Krankenschwester, die unendlichen Mühen, über die heute in Friedenszeiten niemand mehr nachdenken muss, die Gefahr durch Deportation, Vergewaltigung und Demütigung und schließlich der Verlust geliebter Mitmenschen sind einfach zu viel für Helene. Und doch hätte ich mir gewünscht, sie schafft es. Denn ganz ohne Liebe ist sie nicht. Sie sorgt dafür, dass Peter zu Tante und Onkel gelangt. Sie will, dass er bei jemandem groß wird, der mehr zu geben hat als sie.

An diesem Hoffnungsschimmer, diesem Funken Mutterliebe halte ich fest. An eine völlige Erkaltung des Herzens kann und mag ich nicht glauben.

ISBN: 978 3 10 022600 6
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