Ich, Gereiste, Gestürzte, Aufgestandene und Wiedergeborene, Geliebte und Vergessene, Mutter zweier wundervoller Kinder, ich weiß, dass ich Mut habe und alles schaffen kann. Seit jenem Tag weiß ich es.
Ich rannte. Ich rannte so schnell, wie meine kleinen Muskeln es erlaubten. Ich spürte das aufkeimende Brennen in meiner Lunge, doch ignorierte es. Ich war ganz auf die Strecke konzentriert. Die Schreie meiner Mutter hallten in meinem Ohr, ich sah noch ihr tränenüberströmtes Gesicht vor meinen Augen, ich sah die Verzweiflung, mit der sie sich den Arm hielt. Ich sah vor mir das Blut von der Brotschneide auf die Holzdielen tropfen und hörte das Gezeter der Großmutter, als sie versuchte, den Arm ihrer Schwiegertochter zu fassen. Mein Herz klopfte wild. Gerade heute waren wir allein auf dem Hof.
Dann kam dieser Moment. Es war, als draußen die Schweine begannen laut zu quieken, fast so, als sei der Metzger zum Tor hereingetreten. Das merkten sie immer sofort, auch wenn sie ihn noch nie gesehen hatten. Vielleicht lag es am Geruch des Blutes, das stets an seiner Kleidung haftete. Ihre Angst kroch dann wie ein Zittern aus den Ställen und ließ die Hühner beim Picken innehalten. Jetzt hörte ich das hohe Quieken der Säue von draußen und blickte auf die beiden Frauen vor mir in der Küche. Mutters Gesicht war kreidebleich geworden, sie tastete rückwärts nach dem Stuhl. Großmutter fluchte laut. Sie war gerade dabei, Schubladen und Schränke nach etwas zu durchwühlen. In dieser Sekunde wusste ich, was zu tun war. Ich rannte los, um meinen Vater zu holen. Ich stürzte zur Küche hinaus, stieß in der Diele die Katzennäpfe um, lief am Hühnerstall vorbei, wo die Vögel erschrocken aufflatterten. Ich stemmte mich mit aller Kraft gegen das riesige Hoftor und als es endlich nachgab, zwängte ich mich durch den schmalen Spalt auf die Straße. Mein Vater war mit dem Traktor zu meinem Onkel gefahren, der am anderen Ende des Dorfes wohnte. Die Brüder hatten den Tag für das Holzmachen eingeplant. Ich kannte den Weg, ich war ihn schon hundert Mal gegangen – aber noch nie allein.
Das kleine Dorf, in dem meine Großeltern und auch mein Onkel ihre Höfe hatten, lag ruhig zwischen Feldern und Hügeln. Seine Häuser reihten ihre Giebel entlang der Dorfstraße aneinander und sahen aus, wie die umgedrehte Wimpelkette eines Kindergeburtstages. Dazwischen trennten mächtige Holztore einen Hof vom nächsten. Neben den breiten Zufahrten lagen kleine Vorgärten. Sie warfen etwas Grün zwischen das graue Kopfsteinpflaster der Straße und die alten Gemäuer. Das alles hätte hübsch ausgesehen, wenn nicht die dunklen Fenster der Häuser wie Augen geglotzt und wenn nicht die hohen Holztore das, was dahinter war, so vehement verborgen hätten. Nie waren die Bewohner der alten Höfe zu sehen oder zu hören. Doch sie waren immer da. Ich konnte das spüren.
Einmal war ich geschickt worden, um von meinem Onkel Pellkartoffeln für die Schweine zu holen. Als ich, den Blecheimer in der Hand, den Weg an der Dorfstraße hinunter ging, beschlich mich ein eigenartiges Gefühl. Mit jedem Meter, den ich mich von Großmutters Hof entfernte, wurde es stärker. Ich konnte plötzlich das Ächzen der alten Tore in ihren Angeln hören. Ich hörte das Rascheln des Laubs, welches der Wind aus den Vorgärten über die Straße blies. Ich war mir sicher, die Häuser links und rechts beobachteten mich. Und schon begannen sie, ihre hohen Giebel langsam nach vorne zu neigen. Gleichzeitig entfernte sich das Ende der Dorfstraße, wo das Haus meines Onkels lag: Alles kam in Bewegung, das alte Kopfsteinpflaster hob sich, klapperte wie der Schwanz einer Viper und legte sich neu zusammen. Der Weg wurde immer länger und schmaler, erstreckte sich plötzlich bis zum Horizont. Mein Ziel wurde unerreichbar. Als die Häuser ihre großen Fensteraugen aufklappten, zitterten erst die Gardinen und dann wurde es mit einem Mal ganz still. In meinem Kopf begann sich alles zu drehen. Ich hörte das Scheppern des Eimers, der über die Straße rollte und lief schnell zurück zum Hof meiner Großeltern, wo ich noch lange völlig aufgelöst hinter der Küchentür kauerte.
Jetzt lief ich wieder – die Gasse hinunter zur gleichen Straße – ich ließ den Hof hinter mir und das Aufschlagen meiner Sandalen war zu hören. Ich lief schnell. Als sich das Gras in den Fugen der alten Pflastersteine nach meinem Tritt wieder aufrichtete, war ich schon längst vorüber. Die Sonne ging unter, es hatten sich große Schatten auf der Dorfstraße breitgemacht. Wind kam auf. Er stieß das „Geschlossen“-Schild des kleinen Lädchens an, erhob sich dann in die Blätter der großen Linde am Dorfplatz und stemmte sich schließlich gegen die alten Holztore. Und schon begannen sie wieder ihr ächzendes Lied. Das Brennen in meiner Lunge war zu einem Stechen geworden, meine Fersen begannen zu schmerzen. Doch dieses Mal rannte ich weiter. Hinter einem der Hoftore lief plötzlich ein Hund herbei und schob laut kläffend seine Schnauze unter dem Tor hindurch. Erschrocken schrie ich auf und sprang zur Seite: „Du doofer Köter!“ Schon lief ich weiter. Mein Herz raste, ich raste. Endlich erreichte ich das Ende der Dorfstraße, bog in die kleine Gasse ein und sah endlich das Haus meines Onkels. Die Männer waren soeben dabei, vom Hof zu fahren, als mein Vater mich erblickte. Überrascht, seine fünfjährige Tochter ganz allein zu sehen, sprang er vom Traktor und ich stürzte in seine Arme. Tränen rannen mir übers Gesicht, ich konnte kaum sprechen. Er nahm mich an den Schultern und schob mich von sich. Mit gerunzelter Stirn blickte er mich an. Da brachte ich keuchend die Worte hervor, die sich die ganze Zeit in meinem Kopf gedreht hatten: „Mama blutet!“
Als die Sonne hinter dem Dorf verschwunden war und die lange Häuserreihe bereits im Dämmerlicht lag, fuhr ein Traktor laut knatternd die Dorfstraße hinauf.
© by ChrissiW